Mit dem ersten Teil meines Nachklapps zur diesjährigen dmexco @ home 20201 möchte ich einen übergreifenden Trend diskutieren, der für mich sehr augenfällig war.
(Falls euch der Start zu abrupt ist: Hier habe ich notiert, wie sich mir das Event insgesamt eingeprägt hat und warum ich gern einen aufbereiteten Rückblick für Content Marketer und ganz besonders für Content-Verantwortliche in Onlineshops geben möchte.)
Ein Gespenst, das uns betrifft
Dieser Trend ist das Heraufbeschwören eines Gespensts. Nämlich, dass wir uns im Digital Commerce in einer Chaos-Situation befinden. Und dieses Narrativ ist für Content-Verantwortliche im E-Commerce gleich doppelt relevant.
Einmal als Adressat: Falls hier Chaos herrscht, ist das ein Problem für uns/unsere Unternehmen!
Und einmal als Absender: Falls hier Chaos herrscht, müssen wir dann nicht auch darüber reden?
Der Zauberlehrling-Moment
Die ersten dmexco-Digitalvorträge, auf die ich unten verweise, haben eines gemeinsam. Sie vermitteln auf ihre Art und Weise alle den Eindruck eines großen Problems/Anarchie-Zustands/Chaos im E-Commerce und Digital Marketing und vermitteln damit ein Gefühl von Hilfslosigkeit.
Nach dem Overkill-Erlebnis der Darstellung und -Taktung des dmexco-Programms (siehe hier #0) begegnet uns die Überforderung nun tatsächlich auch im Inhalt:
E-Commerce wird von Technologien, Datenströmen, Systemen und Regularien bestimmt, die sich zu einem schlimmen Gebräu vermischt haben. Das ist alles zu viel und keiner kennt sich wirklich aus.
Besonders übel ist es bei den Daten:
Erst haben wir sie gerufen, jetzt werden wir ihrer nicht mehr Herr.
Konkrete Aufhänger sind beispielsweise:
… dass nicht nur die Digitalisierung sondern die Pandemie alles noch digitaler gemacht hat,
… dass neue Kanäle hinzugekommen und jetzt „omni“ sind,
… dass Unternehmen mit Daten geflutet werden und nicht wissen, was damit zu tun ist,
… dass auch die Kunden am information overload leiden,
… dass sich Marketing grundlegend verändert hat,
… dass der Klick im Prinzip unser einziger Zugang zum Kunden ist,
… dass vernetzte Systeme uns in viel zu hohe Komplexität geführt haben,
… dass wir inmitten einer Transformation nicht klar sehen können.
Vorträge zum Nachschauen
Die folgenden Vorträge arbeiten mit diesem Chaos- und Überforderungs-Narrativ.
(Das dmexco Cockpit hat in der dmexco ‘Conference Agenda’ eine Titelsuche.)
“Setting the right priorities in the age of commerce anarchy” - Masterclass mit Lisette Huyskamp (products up), Margit Gosau (Sport 2000), Thomas Heuchert (Grundfos), Dietmar Riesch (Pimcore)
“Order(s) from Chaos: How to combat commerce anarchy with the Productsup platform” - Masterclass mit Kjeld van Druten, Lena Wisser (products up), Markus Witassek (moebel.de)
“The Future of Marketing – It’s all about Data, isn’t it?” - Leanne Cutts (HSBC), Chris Babayode (MMA)
“Building trust in the information age” – Christian Ward (Yext)
“Putting People First: Leveraging Data to Humanize Digital” – Jonathan Cherki (Contentsquare)
“Data Marketing needs some good marketing – the Privacy Paradox”, Masterclass
Schaut doch mal rein und bewertet kritisch, wie sich das für euch anfühlt.
Findet ihre eure eigenen Symptome wieder?
Und seid ihr mit der Problemanalyse zufrieden?
[NB: Vor diesem Hintergrund ist so kurz vor der Wahl auch interessant, was die Parteien dazu zu sagen haben:
Unter dem Schlagwort „Digitale Zukunft“ kommen Saskia Esken (SPD), Thomas Jarzombek (CDU) und Konstantin von Notz (Bündnis ´90/Die Grünen) zu Wort und zeichnen ein sehr unterschiedliches Situations- und Problemverständnis. Ein Kontrast zu den Business Vorträgen ist auf jeden Fall gegeben.]
Das Chaos-Narrativ in der „Content“-Analyse
Auch wenn ich persönlich dieses Narrativ weder für richtig noch für sinnvoll halte, möchte ich es doch noch genauer ansehen. Denn dieser Trend ist, wie eingangs erklärt, deswegen so wichtig für Content Marketer im E-Commerce, weil sie einmal als Kunden und einmal als Fachkraft eine Haltung dazu einnehmen müssen.
Und dieses Thema wird in der Branche und auf diesem Event zum angewandten Beispiel von Storytelling, das man folgendermaßen analysieren kann.
Story Arc und Exposition
Jede Geschichte muss mit der Problemsituation beginnen und den Protagonisten (Ein Unternehmen wie eures, die ihr das jetzt lest!) in ein tiefes Loch fallen und das Publikum (Auch das seid ihr! Wie gesagt, die Rolle ist eine doppelte.) mitleiden lassen.
Protagonist und Konflikt für die Zielgruppe
Allerdings muss das Problem auch „relatable“ sein. Und falsche oder unglückliche Darstellung und Übertreibung können den gegenteiligen Effekt haben.
Daten-Chaos? Commerce Anarchy? Ist das „relatable“? Nach einer anderen Lesart könnte man den E-Commerce als eine noch immer bestens funktionierende kapitalistische Marktwirtschaft beschreiben. Und gerade die auf der dmexco präsenten Unternehmen erwirtschaften jedes Jahr Millionen-Umsätze … Ich persönlich fühle mich hier nicht richtig abgeholt.
Aber Probleme können natürlich auch gefühlte Probleme sein. Für den einen ist eine Million ein Erfolg. Für den anderen ist es Ausdruck unbeherrschbaren Chaos‘. 😉
Zuspitzung des Konflikts
In der weiteren Dramaturgie arbeiten Stories, die das Chaos-Narrativ nutzen viel mit hypothetischen Droh-Szenarien und abstrakten Argumenten Grafikform. Verständlich, denn die als Testimonial-Stimmen mitgebrachten Kunden würden sich ungern als Misserfolg im Detail darstellen lassen.
Hierin liegt eindeutig eine Schwäche: der Konflikt steigert sich kaum und wird nur schlecht belegt. Es wird vor allem mit dem diffusen Gefühl der Hilfslosigkeit im Arbeitsalltag des Publikums gearbeitet. Stattdessen spricht der Beispiel-Kunde recht schnell über eigene Erfolge, also die positive Seite der Medaille. Damit geht man sofort zur Auflösung über, dem nächsten Schritt des Chaos-Gedankengangs und auch der letzten Phase im Storytelling-Bogen.
Auflösung/Katharsis
Das Ergebnis ist am Ende dann doch recht vorhersehbar und nach dem Muster gestaltet: Was ein Tech-gemachtes Problem ist, muss auch durch Tech gelöst werden!
Spätestens an dieser Stelle steigen viele Content-People aus. Wir alle, die wir regelmäßig an Inhalten arbeiten, wissen, dass die Technologie allein keine Lösung bringen kann.
Error Theory: Es herrscht ein altes Produktdenken vor
Jetzt ist es interessant zu sehen, wo dieses Narrativ seinen Ursprung nimmt. In der Philosophie würde man von einer „error theory“ sprechen. Wie und warum kommt es zum „Chaos-Drama“ – auch wenn es eine ganz andere Frage ist, ob wir es überhaupt mit Chaos zu tun haben.
Und der Grund ist, dass nicht der Kunde, sondern das Produkt im Mittelpunkt steht. Es wird nicht customer-centric, sondern produktzentriert gedacht. À la: Wir haben hier eine wunderbare Produktlösung, für irgendjemandem wird sie schon passen, wir müssen ihn/sie nur finden. Und damit erstmal viele zuhören, wird mit „Chaos“ Angst geschürt und auf maximale Aufmerksamkeit gehofft.
Dies ist das ganze Gegenteil von einer Herangehensweise mit Content Strategie! Man startet immer bei den Kunden (bzw. der Persona) und ihren konkreten Problemen.
Hier hingegen wird das Problem immer gerade so konstruiert, dass es genau auf die Auflösung passt. Das Chaos-Narrativ enthüllt also im Kern eine Haltung, die zur echter Content-Arbeit gar nicht passt.
Fazit
Das „Chaos-Narrativ“ ist für mich in erster Linie Ausdruck von Defokussierung und einer falschen Hoffnung, dass Technologien die Rettung sein können.
Dabei kann Techhörigkeit im Gegenteil erst in so verbaute Situationen führen, dass wegwerfen und neu machen schneller und billiger ist.
Davor schützt sich, wer Technologie als Werkzeug versteht und für die Lösung ein gesundes Problemverständnis, ein klares Ziel vor Augen und eine abstrakte Umsetzungsidee mitbringt.
Danach werden diejenigen aber gar nicht erst suchen, die im „Chaos“ die Wurzel des Übels sehen. Denn Chaos ist keine große Unordnung, der man mit harter Arbeit beikommen kann. Chaos ist gar nicht ordenbar.
Wer Chaos als Problem anerkennt, schließt bereits von vornherein aus, selbst einen Lösungsansatz zu finden.
Eine analoge Metapher aus der Pandemie
Zum besseren Verständnis abschließend ein einfacheres anderes Beispiel, was ich mit dem falschen Fokus auf das Tool/das Produkt meine.
Eine Nähmaschine ist nützlich, aber nur wenn man weiß, was man damit tun muss. Sonst hätte man besser mit Nadel und Faden von Hand genäht.
Als sich vor 1,5 Jahren die Maskenproduzierende Industrie gerade für das Geschäft des Jahrhunderts rüstete und medizinische Masken für die breite Masse der Bevölkerung nicht zu bekommen waren, haben uns die HobbynäherInnen mit ihren Schnittmustern für Stoffmasken und ihrem unerschöpflichen Fleiß buchstäblich gerettet.
Inspiriert davon haben sich viele Nähanfänger eine Nähmaschine zugelegt - aber nach den ersten genähten Masken das gute Stück in den Keller verbannt und erkannt: Man wollte die Maske, nicht die Nähmaschinenkompetenz.
Der wichtige Ansatzpunkt zur Lösung ist nämlich, überhaupt zu wissen, dass man eine Maske braucht und wie sie beschaffen sein muss.
Nicht jeder muss zum Nähmaschinenmeister werden, nur weil man eine Maske braucht. Die Nähmaschine selbst oder eine Person, die sie bedienen kann, wird ohne Plan auch keine Maske nähen können. Und ohne Nähmaschine herrscht auch kein diffuses Gefühl von Chaos, sondern man hat einen sehr konkreten Maskenmangel.
* Im nächsten Beitrag geht es um Content Best Practice, die ich aus dmexco Vorträgen ziehen konnte. Gute Prozesse und warum man sich dafür entscheiden sollte.*